Wohin das Erinnern uns trägt

 

 

 Ausdrücklich: ‚das Erinnern‘, nicht: die Erinnerung.

 

 ‚Erinnerung‘ akzentuiert ein eher passives Moment, weist dem Betrachter der Bilder  eine Rolle ähnlich einem Passagier zu, der mitgenommen wird. Andererseits ‚trägt das Erinnern‘ jedoch auch, wie der Titel betont, so wie der Fluss Mnemosyne in der Unterwelt der antiken Mythologie Boote und deren Insassen trug. Während der Fluss Lethe „langes Vergessen“ (Vergil) denen gewährte, die von seinem Wasser tranken, schenkte Mnemosyne erinnernde Gewissheit – und die gleichnamige ‚schönlockige‘ Göttin, Tochter des Uranos und der Gaia und Mutter der Musen, ebenso.

 

Erinnerung beinhaltet in gewisser Weise auch etwas Überwältigendes, beim Erinnern dagegen besteht die Chance auf Bewältigen, vielleicht sogar im Sinne von Vergewisserung der eigenen Identität. Wenn in diesem Sinne also Gegenwart durch Erinnern vollendet werden kann, dann bietet dieses Erinnern eine weitere Chance, nämlich die, Ganzheit herzustellen. Ganzheit nicht als abgeschlossenes Ganzes, sondern im Sinne eines Prozesses. Das Bild als Medium, das den Prozess initiiert, dessen Unfertigkeit aber auch zum Bestandteil einer Kommunikation zwischen Bild und betrachtendem Menschen macht. Vielleicht auch zum Bestandteil einer Kommunikation des Betrachters mit sich selbst.

 

Der ungesteuerte assoziative Reflex, die intuitive Plausibilität des Gesehenen, sie können – durch einen bewusst herbeigeführten Wechsel der Ebenen – zum Arrangement von Assoziationen werden mit einer großen atmosphärischen Vielfalt.

 

 „Ja, ich sehe ein sich bewegendes Wasser. Ich weiß nicht, ob es sich fortbewegt oder mir zuströmt. Mnemosyne oder Lethe? Ich ‚erkenne‘ ein Eiland auf der linken Bildseite und eine dunkle Tiefe, kontrapunktisch rechts platziert. Ein Gewaltiges, Schwebendes, deshalb auch Erhabenes, dominiert den Vordergrund des Bildes. Es ist in Bewegung. Wohin wird es sich wenden?“

„Das Licht, was ich im Bild wahrnehme, kommt und geht. Beleuchtet es ein Eiland? Was erhebt sich an dessen Küste? Was schwebt da gigantisch und zugleich schwerelos heran? Muss ich mich davor fürchten, oder sehne ich seine Berührung herbei? Mnemosyne oder Lethe?“

 

Reicht das Erinnern auch in die Zukunft? Antizipation des Künftigen?

 

Hölderlins Gedicht „Mnemosyne“ gibt eine mögliche Antwort, die in ihrer Reinheit und Kompromisslosigkeit alle Überzeugungskraft besitzt, die nur dem Vollkommenen eigen ist:

 

Lang ist

 

Die Zeit, es ereignet sich aber

 

Das Wahre.

 

 

 

Manfred Zimmer-Valentini